Erstellt am 18/12/2023 von
Auf meiner Visitenkarte steht „senior project manager“ (Projektverantwortliche) bei Bressers Architecten, aber es hätte genauso gut „Bauleiterin“ oder „Sitzungsmeisterin“ sein können. Der Bau des Besucherzentrums in der St.-Bavo-Kathedrale hat uns viel Zeit und Mühe gekostet - aber für ein solches Meisterwerk lohnte es sich wirklich.

Eine erhebliche Arbeit

Der Genter Altar ist weltberühmt, aber wir hatten zwei große Probleme. Erstens war das Werk in einer Art von Betonbunker in der Villa-Kapelle ausgestellt, einem schlecht belüfteten Raum, der auch nicht einfach zu finden war. Es gibt sogar Geschichten von Menschen, die die Kathedrale betraten, sich herumschauten und das Gemälde nicht finden konnten! Zweitens: Die Kathedrale war für Rollstuhlfahrer nicht barrierefrei. 

Alt und neu vereinen: Das war unser Ziel

Das sollte besser werden. Als ich dem Projekt 2017 beitrat, war die Entscheidung schon getroffen, um das Gemälde zur Sakramentskapelle, ganz vorne in der Kathedrale, umzuziehen. Aber es ist nicht einfach, um ein gotisches Monument mit einer romanischen Krypta und einem barocken Chor barrierefrei zu gestalten. Es gab zahlreiche Höhenunterschiede und wir wollten die typischen Treppenaufzüge vermeiden. Letztendlich war ein Neubau mit einem Aufzugsschacht die eleganteste Lösung.

Wenn Besucher mir nachher sagen, dass der Neubau die Aufmerksamkeit nicht auf sich lenkte, betrachte ich das als das schönste Kompliment.
Maaike Blancke (Bressers Architecten)

Eine Mauer durch einen Leichnam

Während der Arbeiten erlebten die Archäologen die eine Überraschung nach der anderen. In der Krypta und dem Bischofsgarten wurden insgesamt mehr als 1000 Skelette ausgegraben, einschl. eines Kinderfriedhofs. Wir wussten zwar, dass die Menschen im Mittelalter möglichst nah an der Kirche heran begraben werden wollten, aber dass wir bis zu 16 Schichten mit Leichnamen übereinander finden würden, hätte keiner erwartet. 

Während der Arbeiten wurden mehr als 1000 Skelette ausgegraben © Ruben Willaert, restauratie & archeologie

Und damals ging man weniger vorsichtig damit um als wir heute. Jetzt verbringen wir Monate dabei, 3D-Scans zu machen und alle gefundenen Skelette genau zu dokumentieren. Damals wurde einfach das Fundament einer Kapelle durch einen Menschen gelegt: Wir fanden ein Skelett, das zum Teil durch eine Mauer zerschmettert wurde.

Sitzungsmeisterin

Als Koordinatorin der jahrelangen Baustelle war ich so etwas wie das Bindemittel zwischen allen Parteien: Ingenieuren für Technik und Stabilität, unterschiedlichen Bauunternehmern, den Behörden, die das Ganze finanzieren mussten… Wenn auch die Archäologen dabei waren, waren wir zu 15. 

Geduld erhielt für Maaike in den vergangenen Jahren eine neue Bedeutung

Das waren Sitzungen, die anderthalb Tage pro Woche beanspruchten.  Jede Woche. Und dann kam die Corona-Pandemie. Ein weiteres Projekt dieser Größenordnung werde ich in meiner Karriere wahrscheinlich nicht nochmal erleben. Aber es hat sich gelohnt.

Weniger ist mehr

Was ich so schön finde, ist die Tatsache, dass der Anbau es ermöglicht, die Kathedrale auf eine ganz neue Weise zu sehen. Wenn Sie zum Beispiel die Treppe besteigen, befinden Sie sich auf Augenhöhe mit einem Buntglasfenster, das kein Mensch je aus einer solchen Nähe sehen könnte. Und trotzdem hat dieser Handwerker es ganz detailliert gestaltet, wie das Wappen von Gent zeigt. Es ist wie beim Genter Altar: Van Eyck malte Brusthaar bei Adam, das auf Sichthöhe vollständig unsichtbar war. 

Das Wappen von Gent war einmal unsichtbar für die Bürger

Ob sie es für Gott taten? Vielleicht. Aber auch aus Berufsehre glaube ich. Sie waren Handwerker, die wollten, dass die Arbeit perfekt war. Ich möchte das auch. Selbstverständlich war es für uns vor allem wichtig, dass wir subtil vorangingen. Der Neubau ist an der Außenseite der Kathedrale ganz unsichtbar, weil er im Bischofsgarten eingeschlossen ist. Wenn Besucher mir nachher sagen, dass der Neubau die Aufmerksamkeit nicht auf sich lenkte, betrachte ich das als das schönste Kompliment.

Die Kettensäge in der Kathedrale

Allerdings waren die Eingriffe ziemlich drastisch. An zwei Stellen mussten wir sogar einen Durchgang durch die Wand machen.  Dann sägt man mit einer riesigen Kettensäge durch den Blaustein aus Tournai aus dem 14. Jahrhundert und befürchtet man das Schlimmste… Letztendlich war die Mauer in einem solchen guten Zustand, dass wir diesen Eingriff einfach nicht versteckt haben. Wir haben keinen Türrahmen installiert, sodass man den Kern der alten Mauer berühren kann.

Ein taktiles Ergebnis: Jahrhundertealter Blaustein aus Tournai.

Das mache ich übrigens oft, Sachen berühren. Manchmal bin ich von einem Detail mehr überwältigt als von dem riesigen Binnenschiff einer Kathedrale. Ich kann an einem Gebäude vorbeigehen und stehen bleiben, um einen Stein zu bewundern, nur um zu spüren, wie er bearbeitet wurde. Wenn ich im Ausland eine Kirche betrete, fallen mir auch sofort Steinschäden oder Salzausblühungen durch Feuchtigkeit auf. (Ich weiß nicht, ob ich die tollste Reisegefährtin bin.)

Ein Faden durch die Kathedrale

Ob ich stolz auf das Ergebnis bin? Selbstverständlich, vor allem auf den intuitiven Besucherfluss. Man findet den Weg wie von selbst. Das haben wir mit dem verwendeten Material bewirkt: Ein Faden aus Messing führt Besucher durch die Räume. Sie fangen am Empfangsschalter aus Messing an, folgen dem Treppengeländer aus Messing nach oben, gehen durch Türen aus Messing usw. bis zum Genter Altar. Einfach ganz intuitiv.  Und das Material ist wirklich so schön… 

Das matt glänzende Messing führt Besucher durch die Kathedrale

Andererseits sind die Eichentüren immer Türen, die zu Räumen führen, die man nicht betreten soll. Diese werden spontan übersehen. Wir haben zwar Schilder mit der Laufrichtung aufgestellt, aber die meisten Besucher nehmen sie gar nicht wahr. Es sei denn, wenn sie die Toilette brauchen. Wahrscheinlich ist das die Schlussfolgerung für mich: Je weniger Besucher unsere Arbeit sehen, desto besser. Solange sie sie spüren.