Erstellt am 24/10/2024 von
Und da stehen Sie dann, Auge in Auge mit den nackten Adam und Eva. Sie sind erstaunlich detailliert gemalt, bis zu Adams krausenden Brusthaare. Nur wenige Figuren auf dem Genter Altar sprechen uns so direkt an. Aber wie betrachteten die Menschen sie in der Zeit von Van Eyck? Und in den Jahrhunderten danach?

Die Konfrontation mit Adam und Eva muss im 15. Jahrhundert ein Schock gewesen sein. Jedoch nicht aus dem Grund, den Sie vermuten. Nein, es war damals kein Skandal. Der Schock hatte nichts mit dem sexuellen Charakter zu tun. Die Burgunden hatten übrigens keine Probleme mit Nacktszenen. Aus dieser Ära stammen zahlreiche mythologische Darstellungen, auf denen es von entblößten Körpern wimmelt. Aber im christlichen Rahmen? Da bemerken wir einen kleinen Unterschied. 

Biblische Figuren nackt abzubilden, war für das Publikum 1432 wirklich unerhört.
Maximiliaan Martens
Der Glanz in Adams Augen macht ihn fast zu einem lebenden Menschen - © Sint-Baafskathedraal Gent, www.artinflanders.be, foto KIK-IRPA

Aus Fleisch und Blut

Biblische Figuren nackt abzubilden, war für das Publikum 1432 wirklich unerhört. Masaccio, ein italienischer Maler, hatte Adam und Eva auf einem Fresko in der Kapelle Santa Maria del Carmine in Florenz schon zehn Jahre vorher nackt gemalt. Die Figuren fühlen sich jedoch mehr stilisiert an und sehen weniger als Menschen aus Fleisch und Blut aus. Auf dem Genter Altar aber stehen sie in Originalgröße und in fotografischem Detail. Es wird vor allem dieser Realismus gewesen sein, der die Menschen erstaunt haben soll. Als ob sie auf dem Tuch lebendige Gestalten sahen… fast. 

Die fast lebendige Anwesenheit von Adam und Eva muss 1432 ein Schock gewesen sein.

Betrachten Sie auch mal Adams Fuß, der aus dem Holzrahmen zu treten scheint. Auf diese Weise spielt Van Eyck mit der Perspektive des Betrachters. Die anderen Figuren auf den oberen Tafeln schauen geradeaus und bleiben etwas mehr entfernt, aber es scheint, als ob Adam zu uns kommt. Man könnte es heute etwa mit der VR-Brille vergleichen: Ein Mensch scheint aus dem Rahmen herauszutreten. Schlichtweg beeindruckend.

© Sint-Baafskathedraal Gent, www.artinflanders.be, foto KIK-IRPA

Adam und Eva, 2.0

Die Auswirkungen des Gemäldes von Adam und Eva waren lange spürbar, allmählich wurde die Nacktheit jedoch das störendste Element. 1781 besuchte der österreichische Kaiser Joseph II. Gent und, wenn man der Überlieferung glauben darf, war er von den nackten Körpern entsetzt. Man soll daraufhin die Tafeln entfernt haben. Vielleicht handelt es sich hier um eine Legende, aber der Spitzname des Kaisers war nicht ohne Grund Kaiser-Sakristan. Die Scham für Nacktheit im religiösen Rahmen war in den vergangenen Jahrhunderten sicherlich angestiegen. 

Die Feigenblätter reichten für den verklemmten Publikum aus dem 19. Jahrhundert nicht

Adam und Eva wurden danach noch lange Zeit stiefmütterlich behandelt. 1816 wurde die Alltagsseite des Genter Altars an einem Kunsthändler verkauft und nach ein paar Irrfahrten endete ihre Reise in Berlin. Adam und Eva sind damals nicht verkauft worden. Sie blieben als einzige der Tafeln der Alltagsseite in Gent, versteckt in den Archiven der Kathedrale. 1861 hat der belgische Staat sie für 50.000 belgische Franken gekauft, um sie dann in Brüssel auszustellen. 

Die Bärenfelle des 19. Jahrhunderts

In der St.-Bavo-Kathedrale wollte man den Genter Altar jetzt wieder in seiner Gesamtheit zur Schau stellen, also inklusive der Alltagsseite, aber um dies zu verwirklichen, hat man Kopien benutzen müssen. Zum Glück hatte Michiel Coxcie 1558 für den spanischen König schon eine integrale Kopie gemalt, die man also perfekt nutzen konnte. Aber in Gent sah man die Nacktheit immer noch nicht gerne, auch wenn man trotzdem noch über die Originalgemälde von Adam und Eva verfügte. 

Die angezogenen Adam und Eva, verschämt in der Krypta der St.-Bavo-Kathedrale dastehend

Der Kirchenvorstand bestellte deswegen bei Victor Lagye, einem Lehrer an der Kunstakademie in Gent, eine Kopie mit bekleideten Figuren. Hier sehen Sie die berüchtigte Kopie mit Bärenfellen (fouruurkes im Genter Dialekt). Adam und Eva tragen hier eine Art Unterwäsche aus Pelz. Es hat bis 1920 gedauert, bis die Originalgemälde wieder an ihrem rechtmäßigen Platz hingen. Heute können wir darüber lachen, aber schauen Sie mal wie Facebook Nacktheit zensuriert! Es ist, als ob wir immer noch die Nachwehen oder eine Renaissance der viktorianischen Prüderie erleben… 

Maxi­mi­lia­an Mar­tens

Maximiliaan Martens ist ein Professor Kunstwissenschaften an der Universität Gent und eine weltweite Autorität, wenn es um Van Eyck geht. Seit 2010 ist er intensiv an der Restaurierung des Genter Altars und der Ausstellung Van Eyck, eine Optische Revolution beteiligt. Was ihn in seiner Studienzeit begeisterte, begeistert ihn auch heute noch: Wie können Technologie und wissenschaftliche Studien es uns ermöglichen, ein neues Licht auf die alten Meister zu werfen? 

Alle Blogeinträge zeigen von Maximiliaan Martens